«Wir befinden uns auf der Zielgeraden»

    Kinderschutz Schweiz ist eine unabhängige privatrechtliche Stiftung und gesamtschweizerisch tätig. Als gemeinnützige Fachorganisation macht sie sich stark dafür, dass alle Kinder in der Schweiz im Sinn der UNO-Kinderrechtskonvention in Schutz und Würde aufwachsen. Präsidentin Yvonne Feri gibt einen Einblick und zeigt, wo der Schuh drückt, was die grossen Herausforderungen sind, welche Projekte und Kampagnen laufen und wie es den Kindern in der Schweiz geht. Zudem ist ein im ZGB verankertes Recht auf gewaltfreie Erziehung gerade in der Vernehmlassung.

    (Bild: zVg) Yvonne Feri, Präsidentin von Kinderschutz Schweiz: «Mir war es im Parlament immer wichtig, die Stimme für die Kinder zu sein.»

    Kinderschutz Schweiz ist eine unabhängige privatrechtliche Stiftung und gesamtschweizerisch tätig. Wie ist die gemeinnützige Fachorganisation entstanden?
    Yvonne Feri: Die Stiftung wurde 1982 als «Schweizerischer Kinderschutzbund» gegründet und im Jahr 2009 in die Stiftung Kinderschutz Schweiz umgewandelt. Seit rund 41 Jahren macht sich Kinderschutz Schweiz für den Schutz der Kinder in der Schweiz stark, indem wir bei diversen nationalen Arbeitsgruppen mitarbeiten, politische Arbeit betreiben, Präventionsangebote für Fachpersonen aber auch Eltern und Erziehungsberechtigte entwickeln und mit Präventionskampagnen die breite Öffentlichkeit auf das Thema Gewalt in der Erziehung sensibilisieren.

    Was sind die Hauptaufgaben von Kinderschutz Schweiz?
    Kinderschutz Schweiz benennt die Missachtung der Rechte von Kindern konsequent und leistet Sensibilisierungs- und Lobbyarbeit zum Schutz der Kinder vor Gewalt. Gleichzeitig bietet Kinderschutz Schweiz Schulungen und Unterstützung für Eltern und Berufsgruppen an, vermittelt eigene Präventionsangebote und vernetzt die Fachwelt zur Stärkung des Kindesschutzsystems.

    Wie geht es den Kindern in der Schweiz. Können alle im Sinne der UNO-Kinderrechtskonvention in Schutz und Würde aufwachsen?
    Die Schweiz hat die UNO-Kinderrechtskonvention 1997 ratifiziert. Es gibt jedoch immer noch Herausforderungen. Mit unserer Bundeshausausstellung «Eine Schweiz für Kinder. Wirklich?» haben wir im Jahr 2020 auf die immer noch lückenhafte Umsetzung der UNO-Kinderrechtskonvention in der Schweiz aufmerksam gemacht. So ist die Schweiz zum Beispiel immer noch eines der wenigen Länder in Europa, welches das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, (noch) nicht gesetzlich verankert hat. Jedoch ist Änderung in Sicht. Ende 2022 wurde die Motion Bulliard-Marbach «Gewaltfreie Erziehung im ZGB verankern» angenommen. Aktuell befinden wir uns in der Vernehmlassung zum Vorschlag des Bundesrats. Auch auf Kantonsebene lassen sich grosse Unterschiede finden: So hat eigentlich jedes Kind, das in der Schweiz lebt, Recht auf den gleichen Schutz. In Realität hat ein Kind, das unter Gewalt und Vernachlässigung leidet, je nach Kanton die viermal niedrigere Chance, professionell betreut zu werden.

    (Bild: pixabay) Kinder müssen in der analogen und in der digitalen Welt geschützt werden.

    Die Uni Freiburg hat gerade erst kürzlich eine Befragung von 1605 Vätern und Müttern durchgeführt. Was ist dabei rausgekommen?
    Die von Kinderschutz Schweiz beauftragte Studie hat ergeben, dass knapp 40 Prozent der befragten Eltern zu Hause körperliche Gewalt anwenden, davon 6 Prozent regelmässig. Jedes fünfte Kind kennt Schläge auf den Hintern, jedes zehnte Kind Ohrfeigen. Rund 15 Prozent der Eltern geben an, ihr Kind gestossen zu haben und knapp 12 Prozent erwähnen, es an den Haaren gezogen zu haben. Über 20 Prozent der befragten Eltern wenden regelmässig psychische Gewalt an.
    Und weil Gewalt in der Erziehung nach wie vor für viele Kinder zum Alltag gehört, ist die Sensibilisierungskampagne «Es gibt immer eine Alternative zur Gewalt» so wichtig.

    Der Bundesrat will, basierend auf einer Motion von Christine Buillard, einen Entwurf zur Verankerung der gewaltfreien Erziehung im ZGB erarbeiten. Das Parlament hat Ende 2022 zugestimmt. Wie weit ist dieses politische Projekt?
    Der Bundesrat hat die Vernehmlassung zur Änderung des Zivilgesetzbuches eröffnet. Diese läuft noch bis zum 23. November. 2024 soll eine entsprechende Vorlage an das Parlament gehen. Dazu hat Kinderschutz Schweiz am 31. Oktober 2023 eine nationale Fachtagung «gewaltfrei erziehen» mit rund 200 Teilnehmern organisiert.

    Könnte ein solches Gesetz Übergriffe von Eltern verhindern?
    Für den gesellschaftlichen Weg hin zum Schutz des Kindes vor Gewalt ist ein im ZGB verankertes Recht auf gewaltfreie Erziehung ein sichtbarer Wegweiser. Studienergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung: Zwar werden Körperstrafen zunehmend als nicht gesetzeskonform betrachtet, doch hält beispielsweise noch immer ein Drittel der Eltern Schläge auf den Hintern für erlaubt. Wer Formen der Gewalt jedoch als verboten ansieht, wendet diese auch weniger an. Die Einführung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung schützt Kinder, indem es Eltern hilft, gewalttätiges Handeln als solches zu erkennen und zu hinterfragen. Als «gut vermittelbares Stopp-Signal» würde ein klares Recht auf gewaltfreie Erziehung auch Fachpersonen helfen, die mit Familien in Kontakt sind, bei denen es zu Gewalt kommt.

    Der internationale Aktionstag «No Hitting Day» findet jährlich am 30. April statt. Welche Bedeutung hat er und ist seine Sensibilisierung für eine gewaltfreie Erziehung erfolgreich?
    Der internationale Aktionstag «No Hitting Day» am 30. April ist ein wichtiger Anlass, um Aufmerksamkeit auf die Bedeutung gewaltfreier Erziehung zu lenken. Die Sensibilisierung für eine gewaltfreie Erziehung ist entscheidend, da sie Eltern und Sorgeberechtigte dazu ermutigt, Alternativen zur Gewalt zu wählen. Der Aktionstag bietet eine Gelegenheit, die Diskussion über die Auswirkungen von physischer und psychischer Bestrafungsmassnahmen zu erläutern und alternative, unterstützende Methoden zu fördern.

    Welche Bilanz ziehen Sie nach der Lancierung der Online-Meldestelle «clickandstop.ch» nach rund einem Jahr?
    clickandstop.ch ist die Online-Meldestelle gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen und wurde im April 2022 gegründet. Die Online-Meldestelle wurde ins Leben gerufen, um pädokriminelle Inhalte im Internet effizienter und schneller zu bekämpfen.Mit clickandstop.ch wollen wir die Thematik und Problematik von Pädokriminalität umfassend angehen. Nebst der Möglichkeit, pädokriminelle URLs einfach und anonym über das Online-Formular melden zu können, bietet clickandstop.ch auch Auskunft und Beratung für Betroffene, Eltern und Erziehungsberechtigte, Lehrpersonen, etc. und schafft eine bessere Vernetzung der Fachwelt. Im ersten Jahr seit der Lancierung im April 2022 wurden der Meldestelle über 400 problematische Inhalte gemeldet, die den Strafverfolgungsbehörden zur Löschung weitergeleitet wurden. Die grundsätzliche Herausforderung ist die Tabuisierung des Themas Pädokriminalität. Es ist ein unangenehmes Thema, jedoch ist Schweigen keine Option. Wir als Gesellschaft müssen uns mit dieser Problematik befassen. Einerseits, indem wir pädokriminelle Inhalte im Internet schnell und wirksam bekämpfen. Anderseits, indem wir Aufklärung und Prävention betreiben sowie das Thema auf die politische Agenda bringen.

    Was sind die grössten Herausforderungen?
    Schutz in der realen und digitalen Welt ist das Fundament aller Rechte. Denn ein Kind, das in seiner Entwicklung gefährdet ist, kann auch von den anderen Rechten weniger Gebrauch machen. Kindesschutz ist ein komplexes und vielschichtiges Thema, wo es die Zusammenarbeit vieler verschiedener Akteure braucht. Wir bei Kinderschutz Schweiz fokussieren uns mit unserer Arbeit auf diese drei Schwerpunktthemen: Gewaltfreie Erziehung, Schutz vor sexualisierter Gewalt sowie Schutzfaktoren und Qualität im Kindesschutz

    Welche Meilensteine haben Sie in der politischen Arbeit erreicht und wo hapert es gerade?
    Diese Frage sprengt die Möglichkeiten der Aufzählung. Ich konnte vieles erreichen, vieles anstossen. Besonders in meiner letzten Legislatur als Nationalrätin. Mir war es immer wichtig, die Stimme für die Kinder zu sein, zusammen mit anderen Parlamentsmitgliedern.

    Was sind die nächsten Projekte von Kinderschutz Schweiz?
    Es bleibt spannend bei Kinderschutz Schweiz. Gerade bei der gewaltfreien Erziehung tut sich mit der Verankerung des Rechts im ZGB einiges. Wir befinden uns aber auf der Zielgeraden. Jedoch ist die Arbeit mit einem Gesetzesartikel im ZGB nicht getan. Nach der Verankerung geht es darum, ihn auch in der Praxis effektiv umzusetzen. Weiter werden uns auch die Rechte der Kinder im digitalen Raum immer stärker beschäftigen. Kinder müssen nicht nur in der analogen Welt geschützt werden, sondern auch in der digitalen. Insbesondere mit der rasanten Entwicklung der künstlichen Intelligenz und des Internets ist es wichtig, dass auch dort der Kindesschutz und die Kinderrechte mitberücksichtigt und umgesetzt werden.

    Interview: Corinne Remund


    Forderungen von Kinderschutz Schweiz

    Ende 2022 wurde die Motion Bulliard-Marbach «Gewaltfreie Erziehung im ZGB verankern» angenommen. Aktuell hat der Bundesrat die Vernehmlassung zur Änderung des Zivilgesetzbuches eröffnet. Diese läuft noch bis zum 23. November.

    Der Kinderschutz Schweiz setzt sich dafür ein, dass:

    • das Recht der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) verankert wird;
    • sich ein Gesetzesartikel zur gewaltfreien Erziehung nicht nur auf den Schutz vor körperlicher Gewalt bezieht, sondern auch auf den Schutz vor psychischer Gewalt und Vernachlässigung;
    • Die Einführung einer Gesetzesbestimmung mit der nötigen Sensibilisierung der Eltern und der Fachkreise verbunden wird;
    • es nationale und staatlich finanzierte Sensibilisierungskampagnen gibt, die explizit auch Formen der psychischen Gewalt und der Vernachlässigung thematisieren und auf eine gewaltfreie Erziehung hinwirken;
    • das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Gesetz mit einer entsprechenden Bestimmung ergänzt wird, wonach die Kantone den Eltern und Kindern genügend Beratungsstellen und weitere Unterstützungsangebote zur Verfügung stellen bzw. das bestehende Angebot weiter zu verbessern haben.
    • Dass der gewählte Gesetzesartikel alle Stakeholder (Bund, Kantone, NGOs und Berufsgruppen die mit- und für Kinder Arbeiten) begünstigt, gemeinsam drauf hinarbeiten, dass keine Form der Gewalt gegen Kinder gesellschaftlich akzeptiert ist.

    www.kinderschutz.ch

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